12. Januar 2009 Daniel Barenboim schickt noch E-Mails an Musiker seines „West-Eastern Divan Orchestra“. Eigentlich sollte das Ensemble, in dem Juden,
Muslime und Christen gemeinsam musizieren, in Qatar und Kairo auftreten. Wegen des Kriegs im Gazastreifen wird stattdessen am Montag in Berlin gespielt
werden. „Manche Musiker zweifeln noch, ob sie kommen sollen“, sagt der Dirigent. Dann betritt er das Musikzimmer seiner Berliner Villa - hier wird Kriegsrat
gehalten.
Herr Barenboim, wie ist die Stimmung im „West-Eastern Divan Orchestra"?
Wir haben die meisten Probleme inzwischen weggeschafft. Sowohl Israelis als auch Palästinenser hatten Zweifel, ob sie es emotional und rational schaffen, neben
ihren Kollegen zu sitzen, um Beethoven zu spielen, während ihre Familien auf beiden Seiten der Gaza-Grenze ums Überleben kämpfen.
Die internationale Politik ist nicht so erfolgreich wie Sie darin, die Probleme einfach wegzuschaffen. Wie haben Sie das gemacht?
Einem palästinensischen Musiker habe ich geschrieben, dass ich es akzeptiere, wenn er sich persönlich nicht in der Lage fühlt zu kommen. Ich habe ihm aber
auch gesagt, dass jede andere Ausrede, etwa eine Anklage gegen die Israelis, bedeuten würde, dass er dem Mechanismus des Konfliktes bereits verfallen ist.
Durch einen Boykott unseres Konzertes würde er allen Israelis eine kollektive Verantwortung zuschieben - und damit auch mir persönlich. Ich habe den Musikern
versprochen, dass wir eine Erklärung zu den Konzerten abgeben werden. Und dass diese Erklärung anders sein wird als beim Libanon-Krieg. Damals haben alle
Orchestermitglieder eine Resolution unterschrieben und waren später enttäuscht, weil ihre Ideale an der Realität gescheitert sind.
Wie wird Ihre Resolution stattdessen aussehen?
Sie wird alle im Orchester vertretenen Meinungen abbilden. Sowohl die israelische Barbarei gegenüber den Palästinensern als auch die ungerechtfertigten Hamas-
Raketen auf Israel. Doch danach kommt der wichtigste Satz: Gerade weil wir eine Position gegen die aktuellen Kriegshandlungen vertreten, sind wir hier und
machen Musik. Denn wir glauben, dass unsere konfliktträchtigen Meinungen nebeneinander existieren können und dass der Nahost-Konflikt nicht durch
militärische Mittel gelöst werden kann.
Sie appellieren also an das Verständnis. Warum gelingt das der Politik nicht?
Vielleicht, weil es ein Grundfehler ist, zu denken, dass der Nahost-Konflikt ein klassischer politischer Konflikt ist. In einem politischen Konflikt streiten sich zwei
Nationen um Öl, Gas oder Wasser. All diese Dinge könnte man diplomatisch lösen oder im Zweifel auch durch militärische Aktionen. Aber in Nahost haben wir es
mit einem menschlichen Konflikt zweier Völker zu tun, die zutiefst davon überzeugt sind, das Recht zu haben, auf diesem kleinen Stück Land zu leben. Wie wollen
Sie das diplomatisch lösen? Das kann nicht funktionieren. Da verhandelt man über fünf Kilometer Grenze. Das ist doch absurd! Noch absurder ist es, einen Krieg
zu führen. Unser Konflikt kann nur gelöst werden, wenn alle Gruppen an der Lösung beteiligt werden: von den israelischen Extremisten über die Hamas, die
Hizbullah, die Fatah bis zur israelische Linken. Sie müssen zu dem logischen Ergebnis kommen, dass es darum geht, die Sichtweise der anderen zwar nicht zu
billigen, wohl aber zu akzeptieren.
Wer könnten die treibenden Personen in diesem Prozess sein?
Die gibt es derzeit leider nicht. Wir brauchen eine Art Große Koalition für den Nahen Osten. Es darf nicht mehr sein, dass irgendeine Partei Vorbedingungen für
Gespräche stellt. Jegliches Zugeständnis im Vorhinein darf die internationale Gemeinschaft nicht zulassen. Einen ähnlichen Prozess hat Europa bereits 1993
vorangetrieben, als Felipe Gonzalez zu einem Gipfel in Madrid gerufen hat. Aber all das passiert derzeit nicht - stattdessen setzt das politische Europa auf
hektischen Friedensaktionismus oder auf gut gemeinte Appelle.
Was könnten die Grundlagen eines solchen Treffens sein?
Die Französische Revolution hat uns drei Begriffe an die Hand gegeben, die ich noch immer für geeignet halte: Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Wichtig ist
die Reihenfolge: Wir können keine Gleichheit ohne Freiheit schaffen. Konkret bedeutet das: Wir brauchen zunächst einen palästinensischen Staat. Er ist der
Anfang der Freiheit und der Gleichheit zwischen zwei Staaten. Erst dann können wir hoffen, Brüderlichkeit zu erreichen. Derzeit ist der Tod jedes Israelis und jedes
Palästinensers unnütz vergossenes Blut.
Das sehen die israelische Regierung und die Hamas anders.
Weil sie nicht rational handeln. Israel weiß, dass es sich eine militärische Niederlage nicht leisten kann, wenn es nicht von der Landkarte verschwinden will. Es
müsste aber auch gelernt haben, dass jeder Sieg nur noch größere Probleme mit sich gebracht hat. Ist es überhaupt denkbar, die Hamas zu zerstören? Wenn das
nicht der Fall ist, wäre jede militärische Handlung grundsätzlich kriminell. Sollte es möglich sein, muss man sich überlegen, was danach passieren würde. Werden
anderthalb Millionen Palästinenser über Nacht auf dem Boden knien und "Amen" rufen? Wohl kaum! Stattdessen wird sich eine neue, noch radikalere Bewegung
gründen. Die Logik verbietet also jede weitere Kriegshandlung. Auch die Hamas muss sich fragen, was die Raketenangriffe auf Israel bewirken. Sie sind Protest
gegen die Besetzung und sorgen für psychologischen Terror. Aber wohin soll er führen? Zu Verhandlungen? Natürlich nicht! Die Hamas muss einsehen, dass sie
mit Israels Militärmacht nicht konkurrieren kann. Derzeit spielen beide Parteien Poker. Und jede Seite hat das gleiche As in der Hand: die Anerkennung der
anderen Nation. Es wird langfristig kein Weg daran vorbeiführen, diese Karte offenzulegen.
Der Konflikt ist längst zu einem Weltkonflikt geworden.
Weil Israel einen Provinzkonflikt im Schoße Amerikas austrägt. Auch das ist idiotisch. Die Hegemonialstellung der Vereinigten Staaten ist längst geschwächt, und
in den Boomländern China, Brasilien oder Indien gibt es keine mir bekannte jüdische Lobby. Außerdem hat die Allianz mit Amerika dem Land in der Vergangenheit
höchstens Waffen, aber keine Sicherheit gebracht. Denn die Feinde der Vereinigten Staaten sind automatisch noch größere Feinde Israels geworden. Es ist nicht
hilfreich, wenn eine regionale Situation durch internationale Konflikte wie jenen der USA mit dem Irak belastet wird.
Die Europäer agieren unterschiedlich: Nicolas Sarkozy geht auf Friedensmission, und Angela Merkel sendet gut gemeinte Appelle . . .
Erlauben Sie mir eine kleine historische Paraphrase: Der Staat Israel ist eine jüdisch-europäische Idee. 1920 waren 15 Prozent der Menschen in Palästina Juden.
Dann kamen die Polen, die Ukrainer und Juden aus aller Welt. Es folgte die Welle des Holocausts. Die Europäer haben bis heute ein schlechtes Gewissen. Und
das zu Recht. Die Deutschen wegen der nationalsozialistischen Diktatur, die Engländer als ehemalige Besatzer, aber auch die Spanier, die Juden in der Inquisition
verfolgt haben. 1947 kam die UN-Resolution, Palästina zu teilen, und 1948 wurde der Staat Israel gegründet. Man muss sich klarmachen, dass die Juden
zweitausend Jahre lang als Minderheit in der Welt verstreut gelebt haben und nun plötzlich einen Staat hatten, in dem sie die Mehrheit bildeten. Nur 19 Jahre
später fanden sie sich selbst in der Situation wieder, Besetzer eines anderen Volkes zu sein. Das alles ist viel zu kurz, um den psychologischen und
philosophischen Prozess von einer verfolgten Minderheit zu einem mündigen Volk zu vollziehen. Die Palästinenser haben zweitausend Jahre lang in diesem Gebiet
gewohnt. Auch für sie ist es schwer zu verstehen, dass ihr Land plötzlich von einem anderen Volk beherrscht wird. Sie haben kein Interesse daran, die Geschichte
der Juden zu verstehen. Doch statt zwischen diesen Gegensätzen zu vermitteln, plagt Europa plötzlich das schlechte historische Gewissen. Und die Politiker
hoffen, durch blinde Unterstützung Israels historisch pflichtbewusst zu handeln.
Wie sollte Europas Rolle stattdessen aussehen?
Wiedergutmachung kann nur auf eine Art funktionieren: Europa muss dem jüdischen Volk helfen, mit den Palästinensern zurechtzukommen. Man kann nicht
sagen: Weil wir euch so viel Leid gebracht haben, helfen wir euch heute, um andere Menschen leiden zu lassen. Zunächst brauchen wir einen Waffenstillstand.
Aber er ist keine wirkliche Lösung. Die einzige Lösung ist die Akzeptanz der gegenseitigen Parteien. Wenn ich so etwas sage, nennen mich die Leute blauäugig.
Aber für mich ist die derzeitige Politik eine Taktik und keine Strategie.
Wäre es Teil einer Strategie, dass sich Länder wie Deutschland für die Unterstützung von Institutionen einsetzen, die den Prozess des Verstehens
vorantreiben?
85 Prozent der Bevölkerung in Palästina sind unter 33 Jahre alt - das bedeutet, hier gibt es ein großes Potential, durch Bildung Einfluss auf das politische Handeln
zu nehmen. Derzeit bedient die Hamas mit radikalen Botschaften einen Nährboden für Terror. Natürlich wäre es wünschenswert, wenn die europäische Politik
genau hier ansetzen und Institutionen fördern würde, die es sich zur Aufgabe machen, das Verstehen voranzutreiben. Aber das "West-Eastern Divan Orchestra" ist
die einzige Organisation seiner Art. Wir sind auch keine Lösung, aber wir könnten ein Modell für eine Lösung sein. In unserer kleinen unabhängigen musikalischen
Republik stehen die unterschiedlichen Positionen nebeneinander. Wir haben die Freiheit, gemeinsam zu spielen oder auch nicht. Wenn wir Musik machen, tun wir
dieses in Gleichheit, und manchmal stellt sich sogar die Brüderlichkeit ein. Bei den kommenden Proben wird die Brüderlichkeit sicherlich unter der aktuellen
Situation schwerer sein. Aber grundsätzlich fände ich es ein wunderbares Zeichen, wenn Europa sich dafür einsetzen würde, dass wir ein Konzert im Gazastreifen
geben können, um auch hier zu zeigen, dass ein Miteinander in Kontroverse möglich ist.
Die Fragen stellte Axel Brüggemann.