23. November 2009 Es ist wolkig, wie eigentlich immer in der kleinen Stadt. Der scheue Vampir Edward hat endlich den Mut gefunden, Bella seine Welt zu zeigen. 
Er nimmt sie in seine Arme und rennt mit ihr durch den Wald auf eine Lichtung. Dort bricht die Sonne durch, und Edwards bleiche Haut beginnt wie mit feinem 
Diamantstaub besetzt zu funkeln. Bella kann kaum fassen, wie schön er ist.

Der Priester kniet, vor ihm liegt seine Geliebte, die gerade ihr Leben ausgehaucht hat. Mit seinen Fangzähnen öffnet er die Venen seiner Hand und lässt Blut in 
ihren Mund tropfen. Sie erwacht, zum Vampir geworden, und schlägt gierig die neuen Fänge in sein Handgelenk, während er nach ihrem Arm greift, um ebenfalls zu 
trinken. Sie saugen aneinander in einem  geschlossenen System gegenseitiger Benutzung: ein Teufelskreis.

Entsagung ist ein hohes Gut
Der Tag bricht an. Ein junger Mann steht an der Brüstung eines Hochhausdaches, seine Brust ist entblößt, in seinen Zügen liegt stille Verklärung. Die ersten 
Sonnenstrahlen wandern den Dachfirst entlang; als sie die Haut des jungen Mannes erreichen, beginnt sie zu qualmen; einige Sekunden später ist nichts mehr 
übrig von Gondrik, dem uralten Vampir. Er ist ins Licht gegangen.

Drei Szenen, drei zeitgenössische Vampirbilder. Die erste Szene stammt aus der "Twilight"-Reihe der mormonischen Autorin Stephenie Meyer, deren deutsche 
Buchtitel das "Bis(s)" variieren: "Bis(s) zum Morgengrauen" und dergleichen. Millionen Teenager auf der ganzen Welt verfolgen, inzwischen auch im Kino, wie sich 
die durchschnittliche Bella Swan in den überirdisch schönen Edward Cullen verliebt, der ihre Liebe zwar erwidert, deren fleischliche Erfüllung jedoch aus Angst um 
Bellas Leben bis in den vierten und letzten Band hinein verweigern muss. Entsagung ist ein hohes Gut in Stephenie Meyers Welt und Triebsublimation für alle 
Beteiligten oberstes Gebot. In "Twilight" sind Vampire die besseren Menschen, und es ist nur logisch, dass Bella nach langem Ringen als eine der Ihren 
aufgenommen wird.

Der Vampir als strahlender Übermensch
Die zweite Szene entstammt dem Film "Thirst/Durst" des koreanischen Regisseurs Park Chan-wook, mit dem er 2009 in Cannes den Preis der Jury gewonnen hat; 
darin verwandelt sich der katholische Priester Sang Hyun nach einer missglückten Bluttransfusion in einen Vampir. Die dritte Szene schließlich ist ein Ausschnitt 
aus der amerikanischen Fernsehserie "True Blood", in deren Mittelpunkt die Beziehung zwischen der telepathischen Kellnerin Sookie Stackhouse und dem Vampir 
Bill Compton steht. "True Blood" ist synthetisches Blut; seit dessen Erfindung sind die Vampire ans Licht der Öffentlichkeit getreten und fordern ihren Platz in der 
Welt. Die Grenze verläuft nicht mehr zwischen Schwarz und Weiß, sondern zwischen Vampiren und Sterblichen. Es geht um Rassismus, Sex und andere Fragen 
des Zusammenlebens, und das mit fein gezeichneten Charakteren, klugen Plots und postkapitalistischer Sinnlichkeit.

Der Vampir als strahlender Übermensch, als tragischer Held oder als Erlöserfigur ist vor allem eines: Projektionsfläche für unsere geheimen Ängste und Begierden. 
Anhand seiner speziellen Conditio werden Grundthemen der menschlichen Existenz verhandelt: Sexualität, Schuld und Sterblichkeit. Doch dieser Tage scheint das 
Genre förmlich zu explodieren: Bücher, Filme, Internetcommunities - die Blutsauger sind überall. Warum nur?

Das ist bis heute der Kern des Vampirmythos
Die Geschichte der Vampire beginnt mit der Furcht vor dem Unerklärlichen - Krankheiten, Missernten und Unglück aller Art. Dafür suchte man Schuldige. In 

Deutschland gab es schon vom vierzehnten Jahrhundert an die Legende von den Nachzehrern - unholden Toten, die, aufrecht im Grab sitzend, den Hinterbliebenen 
die Lebenskraft absaugten. Das ist bis heute der Kern des Vampirmythos: Ein Wesen, das zu wenig eigene Energie besitzt, ist gezwungen, sie von anderen zu 
stehlen. Der Mensch muss sterben, der Untote muss morden. Doch bis zu dem moralischen Dilemma, das dem modernen Gentleman-Vampir eben daraus 
erwächst, ist es ein langer Weg.

Als "Vater" des modernen Vampirs fungiert der rumänische Fürst Vlad III., "der Pfähler" Draculea, geboren 1431 und gestorben 1476. Vlad III. war ein kriegerischer 
Herrscher, der Kriminalität und Ungehorsam gnadenlos verfolgte. Unter seiner Regierung blühten Kultur und Handel; seine innen- und außenpolitischen Feinde ließ 
er am liebsten öffentlich pfählen. Solche Gewohnheiten und üble Nachrede machten aus ihm im Lauf der Jahrhunderte Graf Dracula, den berühmtesten Beißer der 
Welt.

Ewige Jugend erlangen
Als "Mutter" des modernen Vampirs darf die ungarische Gräfin Elisabeth Báthory gelten, geboren 1560 und gestorben 1614, die je nach Zeugenaussage zwischen 
36 und 600 junge Mädchen auf ihre Burg lockte, dort folterte und ermordete. Aus einem real geführten Prozess gegen die Serienmörderin entwickelte sich über die 
Jahre die Legende der Blutgräfin, die im Blut von Jungfrauen gebadet haben soll, um ewige Jugend zu erlangen.


Max Schreck im Stummfilm „Nosferatu - Eine Symphonie des Grauens”

Aus diesen Komponenten entstanden durch Nacherzählung und literarische Bearbeitung die Charakteristika des Vampirs, wie wir ihn heute kennen - ein untoter

Blutsauger, meist adliger Herkunft, der tagsüber in einem Sarg schläft und nachts auf die Jagd geht, nur durch Sonnenlicht oder einen Holzpflock ins Herz zu vernichten. Der soziale Aufstieg ist vor allem den Schriftstellern John Polidori und Abraham Stoker zu verdanken; ihre Figuren "Lord Ruthven" (1817) und "Graf Dracula" (1879) versetzten die Vampire endgültig aus den Gräbern in die Schlösser, von denen aus sie ihren Siegeszug durch die moderne Populärkultur antraten.


Denn der Vampir symbolisiert vieles

Seit dem ersten Vampirfilm von 1912 sind mehr als 600 weitere entstanden. Auch hier gibt es einen Trend zur Veredelung; während Murnaus Nosferatu (1922) noch 

ein kahler hagerer Widerling ist, besitzen Christopher Lees (1958) oder Klaus Kinskis (1978) Interpretationen des Grafen Dracula schon deutlich virilere Qualitäten. 

Bei der Verfilmung von Anne Rices' "Interview mit einem Vampir" (1994) sind die untoten Protagonisten feinnervige Kosmopoliten mit bisexuellen Neigungen, und 

Stephenie Meyers tendenziell enthaltsame Vampire sind sowieso kurz vor der Heiligsprechung.

Aber sind das überhaupt noch Vampire? So keusch und funkelnd im Sonnenlicht? Oder doch eher Engel mit Ernährungsproblem? Denn der Vampir symbolisiert 

vieles: Sehnsucht nach und Angst vor Unsterblichkeit, Kampf gegen die eigene Natur, Kreisläufe der Gewalt (wer gebissen wird, muss beißen) und vor allem: 

Sexualität.


Doch Fiktion ist nicht genug

Ob seine Figur der Aufklärung dient wie im Kultmusical "Rocky Horror Picture Show", das in den Siebzigern erste Kontakte zwischen Mainstream und Queer-Kultur 

herstellte, oder sie als Chiffre für den Übergang zur Pubertät funktioniert wie in dem meisterhaften Genrefilm "So finster die Nacht" (2008) - Beißen und Eindringen 

sind zumeist synonym zu verstehen. Deshalb wirkt ein derart selbstbeherrschter Vampir wie Edward Cullen auch so befremdlich - oder ist er einfach ein 

überzeugender Gegenentwurf in einer übersexualisierten Gesellschaft?


Seit den Fernsehserien "Buffy" und "Angel" sind Vampire endgültig Bestandteil der Jugendkultur. Viele Vampirthemen sind zugleich Teenagerthemen: Initiation, 

unumkehrbare Transformation und der Wunsch, etwas Besonderes zu sein. Doch vor allem gelingt es dem modernen Vampir, seine Abweichung von der Norm in 

Stärke und Glamour zu verwandeln. Das fasziniert jeden, der noch auf der Suche nach sich selbst ist. Und da die Adoleszenz in unserer jugendsüchtigen 

Gesellschaft mittlerweile beliebig ausgedehnt werden kann, mangelt es nicht an Bewunderern.


Doch Fiktion ist nicht genug. Seit Jahren existieren verschiedene Subkulturen, deren oft jugendliche Mitglieder sich als reale Vampire bezeichnen und sich 

hauptsächlich im Internet organisieren. "Sanguiniker" nennen sich diejenigen, die es nach echtem Blut gelüstet; dieses wird meistens in gegenseitigem 

Einverständnis von einem Spender entnommen. Die anderen heißen psychische Vampire; sie glauben, ihre Mitmenschen mental aussaugen zu können. Und so 

schließt sich der Kreis: Jeder von uns kennt Menschen, die mehr nehmen, als sie zu geben bereit sind. Auch das gehört zu den Geheimnissen unseres Daseins. 

Und wenn wir, um ihnen nachzugehen, aus unserer allzu grell beleuchteten Wirklichkeit in die stillen Schatten treten, steht er schon da und wartet: unser dunkler 

Bruder.


Quelle: http://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/vampire-unser-dunkler-bruder-1884589.html




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Günter Grass_Suppenkaspar


Damit das klar ist: „Ich bin kein passionierter Tagebuchschreiber. Es muss schon Ungewöhnliches passieren, das mich in die Pflicht nimmt.“ Ein Glück, dass das 

Jahr 1990, dem das Tagebuch gilt, nicht ereignisarm war! Die deutsch-deutsche Entwicklung treibt ihn zur Weißglut: „Ich koche.“ Günter Grass kocht an diesem 

28. Januar 1990, an dem das Saarland Landtagswahlen abhält und Oskar Lafontaine zum SPD-Kanzlerkandidaten gekürt wird, etwas Leckeres: „Ich koche 

Schweine-Schwarzsauer und habe einige portugiesische Feigen in den Sud gelegt.“ Aber was hilft das beste Rezept, wenn man beim Kochen fernsieht? „Überm 

Wahlprogramm ist das Schwarzsauer zu stark eingekocht.“

Die Folgen sind absehbar, „mit Durchfall“ fährt er zwei Tage später zu einer Klausurtagung der SPD. Die Bahnfahrt verläuft nicht störungsfrei, „Ute“ – das ist seine 

Frau – „Ute bemerkt die schmutzige Toilette.“ Aber das kann Grass nicht gewesen sein, denn wir haben in unserer kleinen Nacherzählung des in der „Zeit“ 

vorabgedruckten Günter-Grass-Tagebuchs einen Sprung gemacht und sind schon beim 2. Oktober; der Tadel der sanitären Anlagen bezieht sich auf die 

Reichsbahn der DDR.


Quergedachte Banalitäten


Es war absehbar, dass dieses Tagebuch voll ist von Bemerkungen über den angeblich kolonialen Stil der westdeutschen Politiker, die sich im Verein mit der 

Treuhand die DDR unter den Nagel rissen; man kennt diese Tiraden, die ja nicht alle falsch sind, aber heute anöden. Es ist Grass unbenommen, über den Zustand 

der Reichsbahntoiletten Auskunft zu geben und damit auch etwas über den ganzen Staat zu sagen. Und das Nebeneinander von Belanglosigkeiten und 

Angelegenheiten von welthistorischer Bedeutung ist aus anderen Schriftstellerjournalen schon geläufig. Bei Grass kommt allerdings ein Größenwahn hinzu, dessen 

Dimensionen bisher nur zu ahnen waren.


Am 2. Januar fasst er seine Frankfurter Poetikvorlesung ins Auge, aus der seine damals ebenfalls in der „Zeit“ abgedruckte Rede über „Schreiben nach Auschwitz“ 

hervorging. Im Tagebuch schreibt er: „Will versuchen, in der Frankfurter Rede das angebliche Recht auf deutsche Einheit im Sinne wieder-vereinigter Staatlichkeit 

an Auschwitz scheitern zu lassen.“ Dieser Versuch misslang. Grass aber gibt auch neunzehn Jahre später noch den Querdenker, der nichts beizutragen hat, was 

man nicht schon hundertmal gehört hätte, und der sein Anliegen nun im Interview noch einmal präzisiert: „Ich möchte einigen Sonntagsrednern in die Suppe 

spucken.“ Da möchte man nicht den Vorkoster geben, diese Zeitungsschau reicht als Geschmacksprobe.


Quelle: FAZ_http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/guenter-grass-suppenkaspar-1758900.html


+0.  die Zeit를 읽고...큰 맘 먹고 새로 나올 책을 한번 읽어볼까 하다가...

눈물나게 지루하다는 FAZ의 기사에...순식간에 포기한다...


+1.  노벨상 수상자의 글에 대한 언론의 평이 상상할 수 없을 정도로 단호하다...

2006년 SS 친위대 경력을 고백하면서 평생 숨겨온 그의 이중성이 드러나서 그렇게 가혹할 수 있지 않나...싶기도 하지만... 

어제 황석영씨의 '바리데기'를 읽으면서...우리나라에도 이런 권위에의 냉정한 도전이 좀 필요하다...생각한다...


+2.  정확하게 그 당시의 상황을 알지 못하긴 하지만...그래도 그 정도 일에...귄터 그라스가 설사병이 났다면...

참...100년이 조금 넘는 현대사를 거친 우리나라 국민들은 벌써 다 위암이다...

씁쓸하다...


+3.  FAZ 의 신랄한 비판에도 불구하고...작가로서 시대적 의무를 인지하고 수행하고자 하는 의지를 높이 산다..


*    얼마전부터 구독하기 시작한 블로그인데...귄터 그라스를 이해하는데 좀 도움이 될 것 같다.

http://blog.ohmynews.com/booking/223602


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12. Januar 2009 Daniel Barenboim schickt noch E-Mails an Musiker seines „West-Eastern Divan Orchestra“. Eigentlich sollte das Ensemble, in dem Juden, 

Muslime und Christen gemeinsam musizieren, in Qatar und Kairo auftreten. Wegen des Kriegs im Gazastreifen wird stattdessen am Montag in Berlin gespielt 

werden. „Manche Musiker zweifeln noch, ob sie kommen sollen“, sagt der Dirigent. Dann betritt er das Musikzimmer seiner Berliner Villa - hier wird Kriegsrat 

gehalten.


Herr Barenboim, wie ist die Stimmung im „West-Eastern Divan Orchestra"?

Wir haben die meisten Probleme inzwischen weggeschafft. Sowohl Israelis als auch Palästinenser hatten Zweifel, ob sie es emotional und rational schaffen, neben 

ihren Kollegen zu sitzen, um Beethoven zu spielen, während ihre Familien auf beiden Seiten der Gaza-Grenze ums Überleben kämpfen.


Die internationale Politik ist nicht so erfolgreich wie Sie darin, die Probleme einfach wegzuschaffen. Wie haben Sie das gemacht?

Einem palästinensischen Musiker habe ich geschrieben, dass ich es akzeptiere, wenn er sich persönlich nicht in der Lage fühlt zu kommen. Ich habe ihm aber 

auch gesagt, dass jede andere Ausrede, etwa eine Anklage gegen die Israelis, bedeuten würde, dass er dem Mechanismus des Konfliktes bereits verfallen ist. 

Durch einen Boykott unseres Konzertes würde er allen Israelis eine kollektive Verantwortung zuschieben - und damit auch mir persönlich. Ich habe den Musikern 

versprochen, dass wir eine Erklärung zu den Konzerten abgeben werden. Und dass diese Erklärung anders sein wird als beim Libanon-Krieg. Damals haben alle 

Orchestermitglieder eine Resolution unterschrieben und waren später enttäuscht, weil ihre Ideale an der Realität gescheitert sind.


Wie wird Ihre Resolution stattdessen aussehen?

Sie wird alle im Orchester vertretenen Meinungen abbilden. Sowohl die israelische Barbarei gegenüber den Palästinensern als auch die ungerechtfertigten Hamas-

Raketen auf Israel. Doch danach kommt der wichtigste Satz: Gerade weil wir eine Position gegen die aktuellen Kriegshandlungen vertreten, sind wir hier und 

machen Musik. Denn wir glauben, dass unsere konfliktträchtigen Meinungen nebeneinander existieren können und dass der Nahost-Konflikt nicht durch 

militärische Mittel gelöst werden kann.


Sie appellieren also an das Verständnis. Warum gelingt das der Politik nicht?

Vielleicht, weil es ein Grundfehler ist, zu denken, dass der Nahost-Konflikt ein klassischer politischer Konflikt ist. In einem politischen Konflikt streiten sich zwei 

Nationen um Öl, Gas oder Wasser. All diese Dinge könnte man diplomatisch lösen oder im Zweifel auch durch militärische Aktionen. Aber in Nahost haben wir es 

mit einem menschlichen Konflikt zweier Völker zu tun, die zutiefst davon überzeugt sind, das Recht zu haben, auf diesem kleinen Stück Land zu leben. Wie wollen 

Sie das diplomatisch lösen? Das kann nicht funktionieren. Da verhandelt man über fünf Kilometer Grenze. Das ist doch absurd! Noch absurder ist es, einen Krieg 

zu führen. Unser Konflikt kann nur gelöst werden, wenn alle Gruppen an der Lösung beteiligt werden: von den israelischen Extremisten über die Hamas, die 

Hizbullah, die Fatah bis zur israelische Linken. Sie müssen zu dem logischen Ergebnis kommen, dass es darum geht, die Sichtweise der anderen zwar nicht zu 

billigen, wohl aber zu akzeptieren.


Wer könnten die treibenden Personen in diesem Prozess sein?

Die gibt es derzeit leider nicht. Wir brauchen eine Art Große Koalition für den Nahen Osten. Es darf nicht mehr sein, dass irgendeine Partei Vorbedingungen für 

Gespräche stellt. Jegliches Zugeständnis im Vorhinein darf die internationale Gemeinschaft nicht zulassen. Einen ähnlichen Prozess hat Europa bereits 1993 

vorangetrieben, als Felipe Gonzalez zu einem Gipfel in Madrid gerufen hat. Aber all das passiert derzeit nicht - stattdessen setzt das politische Europa auf 

hektischen Friedensaktionismus oder auf gut gemeinte Appelle.


Was könnten die Grundlagen eines solchen Treffens sein?

Die Französische Revolution hat uns drei Begriffe an die Hand gegeben, die ich noch immer für geeignet halte: Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Wichtig ist 

die Reihenfolge: Wir können keine Gleichheit ohne Freiheit schaffen. Konkret bedeutet das: Wir brauchen zunächst einen palästinensischen Staat. Er ist der 

Anfang der Freiheit und der Gleichheit zwischen zwei Staaten. Erst dann können wir hoffen, Brüderlichkeit zu erreichen. Derzeit ist der Tod jedes Israelis und jedes 

Palästinensers unnütz vergossenes Blut.


Das sehen die israelische Regierung und die Hamas anders.

Weil sie nicht rational handeln. Israel weiß, dass es sich eine militärische Niederlage nicht leisten kann, wenn es nicht von der Landkarte verschwinden will. Es 

müsste aber auch gelernt haben, dass jeder Sieg nur noch größere Probleme mit sich gebracht hat. Ist es überhaupt denkbar, die Hamas zu zerstören? Wenn das 

nicht der Fall ist, wäre jede militärische Handlung grundsätzlich kriminell. Sollte es möglich sein, muss man sich überlegen, was danach passieren würde. Werden 

anderthalb Millionen Palästinenser über Nacht auf dem Boden knien und "Amen" rufen? Wohl kaum! Stattdessen wird sich eine neue, noch radikalere Bewegung 

gründen. Die Logik verbietet also jede weitere Kriegshandlung. Auch die Hamas muss sich fragen, was die Raketenangriffe auf Israel bewirken. Sie sind Protest 

gegen die Besetzung und sorgen für psychologischen Terror. Aber wohin soll er führen? Zu Verhandlungen? Natürlich nicht! Die Hamas muss einsehen, dass sie 

mit Israels Militärmacht nicht konkurrieren kann. Derzeit spielen beide Parteien Poker. Und jede Seite hat das gleiche As in der Hand: die Anerkennung der 

anderen Nation. Es wird langfristig kein Weg daran vorbeiführen, diese Karte offenzulegen.


Der Konflikt ist längst zu einem Weltkonflikt geworden.

Weil Israel einen Provinzkonflikt im Schoße Amerikas austrägt. Auch das ist idiotisch. Die Hegemonialstellung der Vereinigten Staaten ist längst geschwächt, und 

in den Boomländern China, Brasilien oder Indien gibt es keine mir bekannte jüdische Lobby. Außerdem hat die Allianz mit Amerika dem Land in der Vergangenheit 

höchstens Waffen, aber keine Sicherheit gebracht. Denn die Feinde der Vereinigten Staaten sind automatisch noch größere Feinde Israels geworden. Es ist nicht 

hilfreich, wenn eine regionale Situation durch internationale Konflikte wie jenen der USA mit dem Irak belastet wird.

Die Europäer agieren unterschiedlich: Nicolas Sarkozy geht auf Friedensmission, und Angela Merkel sendet gut gemeinte Appelle . . .

Erlauben Sie mir eine kleine historische Paraphrase: Der Staat Israel ist eine jüdisch-europäische Idee. 1920 waren 15 Prozent der Menschen in Palästina Juden. 

Dann kamen die Polen, die Ukrainer und Juden aus aller Welt. Es folgte die Welle des Holocausts. Die Europäer haben bis heute ein schlechtes Gewissen. Und 

das zu Recht. Die Deutschen wegen der nationalsozialistischen Diktatur, die Engländer als ehemalige Besatzer, aber auch die Spanier, die Juden in der Inquisition 

verfolgt haben. 1947 kam die UN-Resolution, Palästina zu teilen, und 1948 wurde der Staat Israel gegründet. Man muss sich klarmachen, dass die Juden 

zweitausend Jahre lang als Minderheit in der Welt verstreut gelebt haben und nun plötzlich einen Staat hatten, in dem sie die Mehrheit bildeten. Nur 19 Jahre 

später fanden sie sich selbst in der Situation wieder, Besetzer eines anderen Volkes zu sein. Das alles ist viel zu kurz, um den psychologischen und 

philosophischen Prozess von einer verfolgten Minderheit zu einem mündigen Volk zu vollziehen. Die Palästinenser haben zweitausend Jahre lang in diesem Gebiet 

gewohnt. Auch für sie ist es schwer zu verstehen, dass ihr Land plötzlich von einem anderen Volk beherrscht wird. Sie haben kein Interesse daran, die Geschichte 

der Juden zu verstehen. Doch statt zwischen diesen Gegensätzen zu vermitteln, plagt Europa plötzlich das schlechte historische Gewissen. Und die Politiker 

hoffen, durch blinde Unterstützung Israels historisch pflichtbewusst zu handeln.


Wie sollte Europas Rolle stattdessen aussehen?

Wiedergutmachung kann nur auf eine Art funktionieren: Europa muss dem jüdischen Volk helfen, mit den Palästinensern zurechtzukommen. Man kann nicht 

sagen: Weil wir euch so viel Leid gebracht haben, helfen wir euch heute, um andere Menschen leiden zu lassen. Zunächst brauchen wir einen Waffenstillstand. 

Aber er ist keine wirkliche Lösung. Die einzige Lösung ist die Akzeptanz der gegenseitigen Parteien. Wenn ich so etwas sage, nennen mich die Leute blauäugig. 

Aber für mich ist die derzeitige Politik eine Taktik und keine Strategie.


Wäre es Teil einer Strategie, dass sich Länder wie Deutschland für die Unterstützung von Institutionen einsetzen, die den Prozess des Verstehens 

vorantreiben?

85 Prozent der Bevölkerung in Palästina sind unter 33 Jahre alt - das bedeutet, hier gibt es ein großes Potential, durch Bildung Einfluss auf das politische Handeln 

zu nehmen. Derzeit bedient die Hamas mit radikalen Botschaften einen Nährboden für Terror. Natürlich wäre es wünschenswert, wenn die europäische Politik 

genau hier ansetzen und Institutionen fördern würde, die es sich zur Aufgabe machen, das Verstehen voranzutreiben. Aber das "West-Eastern Divan Orchestra" ist 

die einzige Organisation seiner Art. Wir sind auch keine Lösung, aber wir könnten ein Modell für eine Lösung sein. In unserer kleinen unabhängigen musikalischen 

Republik stehen die unterschiedlichen Positionen nebeneinander. Wir haben die Freiheit, gemeinsam zu spielen oder auch nicht. Wenn wir Musik machen, tun wir 

dieses in Gleichheit, und manchmal stellt sich sogar die Brüderlichkeit ein. Bei den kommenden Proben wird die Brüderlichkeit sicherlich unter der aktuellen 

Situation schwerer sein. Aber grundsätzlich fände ich es ein wunderbares Zeichen, wenn Europa sich dafür einsetzen würde, dass wir ein Konzert im Gazastreifen 

geben können, um auch hier zu zeigen, dass ein Miteinander in Kontroverse möglich ist.


Die Fragen stellte Axel Brüggemann.


Quelle:http://www.faz.net/themenarchiv/2.1034/daniel-barenboim-ueber-den-gaza-konflikt-unnuetz-vergossenes-blut-1642340.html


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