"Was ist die 'Gefälligkeitsbank'?"
"Das wissen Sie doch. Jeder Mensch kennt sie."
"Schon möglich, aber ich weiß noch immer nicht, was Sie damit meinen."
"Sie wird im Buch eines amerikanischen Schriftstellers erwähnt. Es ist die mächtigste Bank der Welt. Sie ist allgegenwärtig."
"Wo ich herkomme, gibt es kaum eine literarische Tradition. Und außerdem könnte ein Gefallen von mir niemandem helfen."
"Das macht nichts. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Ich weiß, dass Sie jemand sind, der sich entwickeln und eines Tages viel Einfluss haben wird. Ich weiß es, weil ich
einmal wie Sie war, ehrgeizig, unabhängig, anständig. Heute habe ich nicht mehr die Energie von damals, aber ich möchte Ihnen helfen, weil ich nichts stillstehen
kann oder will. Ich will nicht von der Rente träumen, sonder von diesem aufregenden Kampf, der das Leben, die Macht, den Ruhm ausmacht.
Ich mache ein paar Einzahlungen auf Ihr Konto - Einzahlungen, die nicht aus Geld bestehen, sondern aus Kontakten. Ich stelle Ihnen den einen oder anderen
Menschen vor, erleichtere bestimmte Verhandlungen, soweit die zulässig ist. Sie wissen, dass Sie mir etwas schulden, obwohl ich nie etwas verlange."
"Und eines Tages..."
"Genau. Eines Tages bitte ich Sie um etwas, Sie könnten nein sagen, aber Sie wissen, dass Sie mir etwas schulden. Sie werden tun, worum ich Sie bitte, ich
werde Ihnen weiterhelfen, die anderen werden erfahren, dass Sie ein loyaler Mensch sind, und ebenfalls auf Ihr Konto einzahlen - stets Kontakte, denn diese Welt
besteht aus Kontakten und sonst nichts. Eines Tages wird man Sie um etwas bitten. Sie werden der Bitte entsprechen und denjenigen unterstützen, der Ihnen
geholfen hat. Im Laufe der Zeit werden Sie über ein Netzwerk verfügen, das die ganze Welt umspannt, Sie werden diejenigen kennenlernen, die Sie kennenlernen
müssen, und Ihr Einfluss wird stetig wachsen."
"Oder aber ich weigere mich, zu tun, worum Sie mich gebeten haben."
"Selbstverständlich steht Ihnen das frei. Eine Investition bei der Gefälligkeitsbank ist eine Risikoinvestition, wie es sie bei jeder anderen Bank auch gibt. Wenn Sie
sich weigern, mir den Gefallen zu tun, um den ich Sie gebeten habe, weil Sie finden, dass ich Ihnen geholfen habe, weil Sie es verdienten, weil Sie der Größte
sind, wir alle verpflichtet sind, Ihr Talent anzuerkennen - na, dann bedanke ich mich und bitte jemand anderen, der Ihnen schon einmal nützlich gewesen ist. Von
dem Moment an wissen alle, ohne dass ich auch nur ein Wort verlieren muss, dass Sie kein Vertrauen verdienen.
Sie können bis zur Hälfte wachsen, aber Sie werden nicht so viel wachsen, wie es Ihnen vorschwebt, sondern auf halber Strecke steckenbleiben. Sie sind halb
zufrieden und halb traurig, sind weder richtig frustriert noch ein Mensch, der sich ganz verwirklicht hat. Sie sind weder heiß noch kalt, Sie sind lauwarm und, wie es
irgendwo in der Bibel heißt,'weil du aber lau bist und weder kalt noch warm, werde ich dich ausspeisen aus meinem Munde'.'"
Der Verleger macht viele Einzahlungen - Kontakte - auf mein Konto bei der Gefälligkeitsbank. Ich lerne, ich leide, die Bücher werden ins Französisch übersetzt,
und wie in Frankreich üblich, wird Fremdes wohlwollend aufgenommen. Mehr als das: Der Ausländer ist ein Erfolg! Zehn Jahre später habe ich eine große Wohnung
mit Blick auf Seine, werde von meinem Lesern geliebt, von der Kritiker gehasst (die mich liebte, bis ich meine ersten hunderttausend Exemplare verkauft hatte, von
da an war ich für sie kein unverstandenes Genie mehr). Ich zahle meine Gefälligkeitsschulden immer pünktlich zurück, und bald werde ich selber Gefälligketen
verleihen - in Form von Kontakten. Mein Einfluss wächst. Ich lerne zu bitten und lerne zu tun, worum mich die andere bitten.
* Paulo Coelho 'Der Zahir'